Von Katja Dörner (stellvertretende Fraktionsvorsitzende), Kai Gehring (Sprecher für Hochschule, Wissenschaft und Forschung) Özcan Mutlu (Sprecher für Bildungspolitik), Beate Walter-Rosenheimer (Sprecherin für Jugendpolitik und Ausbildung) und Franziska Brantner (Sprecherin für Kinder- und Familienpolitik)
Über eine Million Flüchtlinge suchen dieses Jahr Schutz in Deutschland. Die Hälfte von ihnen ist unter 25 Jahre alt. Diese jungen Menschen brauchen eine neue Perspektive. Sie wollen sich einbringen, integrieren, weiterentwickeln und in der neuen Heimat Fuß fassen. Die Willkommenskultur, die wir in den vergangenen Monaten erlebt haben, müssen wir jetzt in den Bildungseinrichtungen fortsetzen. Das sind eine Herausforderung und gleichzeitig eine Chance, die nicht verspielt werden darf. Wenn wir heute die Weichen richtig stellen, kann ein neues „Wir“ in unserem Land gelingen.
Neben den Fluchtstrapazen, die sie verarbeiten müssen, stehen viele Flüchtlinge vor einer unsicheren Zukunft und vielen zu lösenden Problemen: Die Sprache ist noch fremd, Wohnung, Arbeit und Perspektive sind noch nicht gefunden. In all dieser Unsicherheit sind Kitas und Schulen erste Ankerplätze, die Halt geben können. Es sind die Orte, in denen Verbundenheit entsteht und Fähigkeiten wachsen. Damit die Bildungseinrichtungen das leisten können, müssen sie besser unterstützt werden – von der Kita über die Schule, von der Hochschule bis zur Weiterbildungsstätte. Darum wollen wir in mehr Chancen für alle investieren. Ein erfolgreiches Einwanderungsland braucht gute Bildung.
Mehr Investitionen sind ohnehin nötig. Denn das deutsche Bildungssystem steht in Sachen Bildungsgerechtigkeit weltweit weit hinten. „Aufstieg durch Bildung“ bleibt für viele junge Menschen hierzulande ein nicht eingelöstes Versprechen. Die Lebenschancen eines Menschen hängen in Deutschland vor allem davon ab, in welche Familie er oder sie geboren wird, wo sie oder er aufwächst. Aber egal ob eingewandert oder hier geboren: Alle haben das Recht auf gute Bildung. Die Herkunft eines Menschen darf nicht länger über Bildungserfolg, Berufskarriere, soziale Stellung und damit über das ganze Leben bestimmen.
Kinder und Jugendliche sind Individuen und sie sind verschieden. Jeder und jede einzelne von ihnen braucht gerechte Chancen; unabhängig vom Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe, vom Migrationshintergrund und der Religion, von Eigenschaften oder Behinderungen. Kinder und Jugendliche müssen ihre Unterschiedlichkeit leben können.
Schon jetzt wachsen Kinder und Jugendliche in Deutschland in einer sprachlich-kulturell, ethnisch und religiös vielfältigen deutschen Einwanderungsgesellschaft auf. In den Bildungseinrichtungen spiegelt sich das wider – in jeder Kita-Gruppe, in jedem Klassenzimmer, in jeder Vorlesung und in jedem Seminar. Diese Vielfalt wertschätzen und nutzen wir immer noch viel zu wenig. Noch immer sollen Kinder zur Schule passen statt umgekehrt, noch immer gibt es zu wenig Lehrkräfte mit eigener Migrationserfahrung, viel zu oft wird Mehrsprachigkeit als Klotz am Bein statt als Türöffner gesehen.
Damit die gemeinsame Zukunft gelingt, muss Integration gelingen können. Deswegen müssen wir die neuen Herausforderungen für Kita, Schule, Berufsschule und Hochschule zu neuen Chancen machen. Bildungs- und Hochschulpolitik sind nämlich vor allem eines: Zukunftspolitik.
Ein erfolgreiches Einwanderungsland braucht gute Bildung. Diese Aufgabe können wir nur gemeinsam stemmen. Daher müssen Bund und Länder gemeinsam mit den Akteuren in den Bildungseinrichtungen folgende Schritte angehen:
1. Das Kooperationsverbot muss aufgehoben werden. Die Bundesregierung darf sich den Herausforderungen im gesamten Bildungsbereich nicht länger verschließen, sondern muss diese Hürde endlich gemeinsam mit den Ländern beiseite räumen. Dann müssen die Schulen gezielt unterstützt werden, damit sie fit für die Zukunft sind und machen können.
2. Wir brauchen eine bundesweite Bildungsoffensive. Sie muss zusätzliche ErzieherInnen, Lehrkräfte, ProfessorInnen, SozialarbeiterInnen und PsychologInnen bringen. Hier geht Nordrhein-Westfalen mit gutem Beispiel voran und schafft mehr als 3.600 neue LehrerInnenstellen. Wir dürfen die vielen ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und Lehrkräfte in den Kitas und Schulen mit den komplexen Herausforderungen, die eine Einwanderungsgesellschaft an sie stellt, nicht alleine lassen. Sie brauchen Unterstützung bei der Ausbildung, Beratung, Supervision, Sprachbildung, Spracherwerb/Deutsch als Fremdsprache und Fortbildungen.
3. Wir brauchen eine Qualitätsoffensive in der frühkindlichen Bildung, die über die Sprachbildung hinaus auch die Elternarbeit verstärkt. Wir brauchen dringend einen besseren Fachkraft-Kind-Schlüssel in den Einrichtungen.
4. Das Recht auf Bildung muss für alle gelten - von Bayern bis Schleswig-Holstein, von Nordrhein-Westfalen bis Sachsen. Geflüchtete Kinder und Jugendliche müssen so schnell wie möglich in unser Bildungssystem integriert werden. Das ist für die Teilhabe an der Gesellschaft unabdingbar.
5. Ganztagsschulen müssen ausgebaut werden. Ein Ganztagsangebot hilft den Kindern beim Ankommen in Deutschland und dem Erlernen der Sprache. Davon profitieren alle Kinder und Jugendlichen. Denn obwohl sich 80 Prozent der Eltern Ganztagsplätze für ihre Kinder wünschen, besuchen bisher gerade mal ein Drittel aller SchülerInnen Ganztagsschulen. Das darf nicht so bleiben.
6. Der Beruflichen Bildung kommt bei der Integration von jungen Flüchtlingen eine Schlüsselrolle zu. Insbesondere Berufsschulen bieten den Jugendlichen spezifische Chancen für schnelle und umfassende Teilhabe an der Gesellschaft – diese gilt es zu nutzen. Sie brauchen ein eigenes Ausbauprogramm, um zehntausende nicht mehr schulpflichtige, aber lernwillige junge Erwachsene unter 25 Jahre aufnehmen zu können. Zusätzlich müssen Berufsschulen stärker beim Angebot intensiver zusätzlicher Sprachförderung unterstützt werden, damit junge Flüchtlinge auch den theoretischen Teil der Ausbildung erfolgreich bewältigen können.
7. Auszubildende und Betriebe brauchen Perspektiven. Damit die Ausbildung von jungen Menschen in Zukunft nicht mehr an aufenthalts- und sozialrechtlichen Hürden scheitert, brauchen Flüchtlinge und Betriebe die Sicherheit, während der Ausbildung nicht mehr abgeschoben zu werden. Um möglichst schnell in Gesellschaft und Arbeitsmarkt Fuß zu fassen dürfen wir junge Flüchtlinge auf ihrem Weg zum Berufsabschluss nicht alleine lassen. Sie sollten deshalb unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus bereits nach drei Monaten die Möglichkeit zur Ausbildungsförderung durch die Berufsausbildungsbeihilfe und alle ausbildungsunterstützenden Maßnahmen erhalten.
8. Geflüchteten muss der Zugang zum Studium erleichtert werden. Dazu gehören die unbürokratische Anerkennung von Hochschulzugangsberechtigungen des Herkunftslands, die zügige Bestandsaufnahme der individuellen Studierfähigkeit, wenn die schriftlichen Nachweise fehlen, sowie kostenfreie Sprachtests. Mehrsprachigkeit im Sinne von „Deutsch als Zweitsprache“ sollte mehr wertgeschätzt, englisch- und anderssprachige Vorlesungen und Seminarangebote ausgebaut werden.
9. Flüchtlinge brauchen schnelleren Zugang zum BAföG. Sie sollen nach drei Monaten Aufenthalt BAföG antrags- und förderberechtigt sein. Zudem sollen Stipendienangebote für Flüchtlinge ausgeweitet werden, wie in Baden-Württemberg, wo die Landesregierung zusätzliche Mittel für Stipendien für Syrierinnen und Syrer zur Verfügung gestellt hat.
10. Wir brauchen den Ausbau der Infrastrukturen des Wissens. Von den Hörsälen bis zu den Bibliotheken, von den digitalen Infrastrukturen bis zur Studienplatzvergabe, von der speziellen Sprachförderung bis zu den Wohnheimplätzen - viele Hochschulen arbeiten an der Kapazitätsgrenze und die Infrastruktur bedarf vielerorts einer Generalüberholung. Bis 2020 sollen Bauten und Ausstattung wieder auf der Höhe der Zeit sein. Zudem muss der Hochschulpakt geöffnet werden, damit für zusätzliche zehntausende Studieninteressierte, ausreichend Studienplätze bereitstehen und sie gute Studienbedingungen vorfinden.
11. Der Zugang zum Arbeitsmarkt muss erleichtert werden. Die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse durch das Anerkennungsgesetz muss verbreitert werden. Außerdem müssen die Qualifikationen und Kompetenzen der Geflüchteten früher als bisher festgestellt werden. Modellprojekte des frühen Einstiegs der Bundesagentur sollen verbreitet eingesetzt werden.
12. Wir müssen unseren neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Chance zu einem eigenständigen Leben durch qualifizierte Erwerbsarbeit ermöglichen. Dafür müssen mehr Angebote für eine Nach- und Anpassungsqualifizierung bereitgestellt werden. Damit Menschen sich solche Qualifizierungszeiten leisten können, müssen mehr Unterstützungsangebote für Maßnahme- und Lebenshaltungskosten durch Zuschüsse und Darlehen geschaffen werden.
Machen wir uns nichts vor. Diese Weiterentwicklung der Willkommenskultur zu einer Willkommensinfrastruktur kostet Geld. Spielräume sind vorhanden: Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen für die kommenden Jahre mit einem Finanzüberschuss Gleichzeitig haben die WirtschaftsforscherInnen deutlich gemacht, dass Investitionen in gute Bildung ein zentrales Mittel ist, um die aktuelle Einwanderung zu einer Chance für alle Beteiligten zu machen. Dem schließen wir uns an! Für dieses und das kommende Jahr stehen Mittel zur Verfügung. Jetzt steht an, sie für das einzusetzen, was zählt: Integration durch gute Bildung für alle!
Die Bundeskanzlerin und die MinisterpräsidentInnen der Länder treffen sich am 3. Dezember, auch um die jährliche Bilanz der Bildungsgipfel zu betrachten. Dieses Mal müssen sie aus der jährlichen Routine des Zur-Kenntnis-Nehmens heraus. Angesichts der Herausforderungen und Chancen, die sich Deutschland bieten, müssen sie handeln. Sie müssen eine Bildungsoffensive vereinbaren, die ein Versprechen umsetzt, das nicht nur für die wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre gelten kann: Deutschland muss aus dieser Krise stärker herauskommen, als es hineingegangen ist. Es muss ein inklusiveres, gerechteres und leistungsfähigeres Bildungssystem bekommen als es vorher hatte. Es muss allen Menschen mehr Chancen geben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und an Gesellschaft und Wirtschaft mitzuwirken. Das ist ein Gewinn für alle.
Berlin, den 3. November 2015