Wahlen in Europa - In welchem gemeinsamen Haus wollen wir leben?

Bis zur Europawahl veröffentlichen wir hier jeden Freitag ein anderes Schlaglicht auf Europa: Menschenrechte, Minderheitenschutz, Klima, freie Presse, reproduktive Rechte - um nur einige Themen zu nennen. Heute geht es um das Thema Diskriminierungsschutz am Beispiel der Rechte der Sinti*zze und Rom*nja in Europa.

Schätzungsweise 10 – 12 Millionen Sinti*zze und Rom*nja leben in Europa. Damit stellen sie die größte ethnische Minderheit dar.
Sinti*zze und Rom*nja prägten über die Jahrhunderte auch die europäische Kultur mit und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte und deren Vielfalt. Sie überlieferten beispielsweise alte Volksmusik, beeinflussten Komponisten wie Franz Liszt, Mozart oder Beethoven. Und auch die Wurzeln des spanischen Flamenco gehen auf die dort ansässige und oftmals ausgegrenzte und verfolgten Rom*nja zurück. Anfang des 19. Jahrhunderts begannen diese Menschen, ihre Leidensgeschichte durch Tanz, Musik und Gesang auszudrücken: Der Flamenco war geboren.

Dennoch wurden Sinti*zze und Rom*nja seit vielen Jahrhunderten systematisch ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt. Dies gipfelte unter dem NS-Regime in der Ermordung von 500.000 europäischen Sinti*zze und Rom*nja, die Opfer eines nationalsozialistischen Genozids (“Porajmos”) wurden.
Und auch heute haben viele Menschen immer noch tradierte Vorurteile gegen Sinti*zze und Rom*nja. Sie sehen sie an als Personen, die stehlen, betteln, die auf Kosten anderer leben.  Diskriminierungserfahrungen gehören also noch immer häufig zum Alltag der Betroffenen. Sie kämpfen an gegen Vorurteile, Ausgrenzung und Antiziganismus. 
Und das, obwohl Diskriminierung einen schweren Verstoß gegen die Menschenrechte darstellt. Der Schutz vor Diskriminierung ist deshalb folgerichtig ein grundlegendes Prinzip der Menschenrechte.

In der Europäischen Union ist der Diskriminierungsschutz entsprechend seiner Bedeutung in verschiedenen Übereinkommen verankert. Bereits 1953 trat die Europäische Menschenrechtskonvention in Kraft. In Art. 14 wurde das sogenannte Diskriminierungsverbot festgeschrieben. Dieses verbietet Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status.
Der Katalog der Menschenrechte der Europäischen Union ist die Charta der Grundrechte.  Ihre 50 Artikel vereinen die Rechte und Freiheiten, die jeder Mensch in der EU genießt. Und auch hier ist in Art. 21 ein Diskriminierungsverbot aufgenommen. Alle weiteren Menschenrechtsverträge enthalten ebenfalls spezielle Artikel zum Diskriminierungsschutz.

Da der Schutz von Minderheiten und vor Diskriminierung ein hohes Gut in Europa bzw. der EU ist, muss vor dem Hintergrund der anstehenden EU-Erweiterungsverhandlungen ein starker Fokus auch auf die Rechte, Teilhabe und Inklusion der Rom*nja gelegt werden.

Mittlerweile haben 9 Staaten von der EU den Status eines Beitrittskandidaten erhalten: die Ukraine, Moldau, Georgien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien, Serbien, Nordmazedonien und die Türkei. Staaten, in denen Rom*nja oftmals unter prekären Bedingungen leben, teilweise am Rande der Gesellschaft. Sie leiden unter einer Lebenswirklichkeit, die Armut befördert, unter Vorurteilen und antiziganistischen Ressentiments. Sie wohnen in Slums oder in Wäldern, werden im Sinne eines Racial-Profiling von Ordnungskräften stigmatisiert und haben zum Teil keine Pässe, obwohl sie seit hunderten von Jahren in der jeweiligen Gegend leben. Ein Beispiel hierfür ist die historische Region Transkarpatien, heute eine ukrainische Verwaltungseinheit, die an Rumänien, Ungarn, die Slowakei und Polen grenzt. In der Ukraine wurde ihnen jahrelang der Pass verweigert.

Die EU hat mit ihrer Roma-Strategie 2020-2030 ein Drei-Säulen-Konzept für die sozio-ökonomische Integration von Sinti*zze und Rom*nja vorgelegt, das in Deutschland als Nationale Strategie „Antiziganismus bekämpfen, Teilhabe sichern“ umgesetzt wird. In Deutschland gibt es im Kampf gegen Antiziganismus und den Bestrebungen um Gleichheit, Inklusion und Partizipation erste Erfolge. Die in dieser Legislaturperiode geschaffene Stelle des Antiziganismusbeauftragten sowie der interfraktionelle Beschluss des Bundestags zum Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus sind wichtige Meilensteine. 

Grundsätzlich gilt es in ganz Europa das gesellschaftliche Bewusstsein für den Beitrag der Sinti*zze und Rom*nja zur europäischen Geschichte zu schärfen, ihre kulturellen Leistungen und ihre Zugehörigkeit zur europäischen Gesellschaft anzuerkennen und Diskriminierung und Antiziganismus zu beenden.

Wegschauen bei den Beitrittsverhandlungen und Ignorieren des Problems ist hier sicher keine Lösung. Antiziganismus im Kontext der EU-Beitrittsverhandlungen muss adressiert und bekämpft werden. Ein starker Einsatz der EU für die gemeinsamen Werte und für die Ächtung des Antiziganismus und die Sicherstellung der Rechte von Sinti und Roma ist unbedingt erforderlich.
Denn nur dann können der Erhalt der Werte der EU und ihre Glaubwürdigkeit in Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte gesichert werden.

Links:

https://zentralrat.sintiundroma.de/arbeitsbereiche/kulturelle-teilhabe/

https://aktuell.uni-bielefeld.de/2019/10/25/wie-die-kultur-der-sinti-und-roma-europa-praegte/

https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Menschenrechtsbildung/Materialen_fuer_die_Bildungsarbeit/Materialien_Bildungsarbeit_Modul_2_Schutz_vor_Diskriminierung.pdf

https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/policies/justice-and-fundamental-rights/combatting-discrimination/roma-eu/roma-equality-inclusion-and-participation-eu_de

https://dserver.bundestag.de/btd/20/016/2001651.pdf

https://dserver.bundestag.de/btd/20/097/2009779.pdf