Wahlen in Europa - In welchem gemeinsamen Haus wollen wir leben?

Bis zur Europawahl veröffentlichen wir hier jeden Freitag ein anderes Schlaglicht auf Europa: Menschenrechte, Minderheitenschutz, Klima, freie Presse, reproduktive Rechte - um nur einige Themen zu nennen.
Heute geht es um 
die AfD und andere europäische rechte Kräfte, die der Europäischen Union den Kampf angesagt haben. Sie fordern die Rückkehr zu der früheren Wirtschaftsunion oder sogar den Austritt oder die Auflösung der Europäischen Union. Doch woher kommt diese Abneigung gegenüber Europa?

Die europäische Integration ist eine große Erfolgsgeschichte. Vor allem aus deutscher Perspektive finden sich wenige Gründe zur Kritik. Kein anderes Land profitierte seit Bestehen der Union so stark von ihr wie Deutschland. Mittlerweile ist auch bekannt, wie wirtschaftspolitisch unverantwortlich ein Austritt aus der EU wäre.

Großbritannien, das 2020 seinen Austritt aus der EU vollzog, befindet sich seit dem Brexit in einer großen Krise. Britische Staatsbürger*innen außerhalb Londons sind, am Bruttoinlandsprodukt gemessen, im Schnitt ärmer als die Bewohner des ärmsten US-amerikanische Bundesstaates, Mississippi. Der volkswirtschaftliche Schaden für den Brexit beläuft sich seit dem Austritt Großbritanniens auf über 162 Milliarden Euro jährlich.

Eigentlich sollte das britische Negativbeispiel also Grund genug dafür sein, das europäische Projekt zu unterstützen. Doch hinter den Austrittsfantasien der AfD und anderer europäischer Rechter steckt weniger das Ziel das Leben der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern, als die Tatsache, dass Europa für Werte einsteht, die mit rechtem Gedankengut inkompatibel sind.

Artikel 2 des EU-Vertrages steht hierfür wie kein anderer: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Ob die Europäische Union den in Art. 2 EUV niedergeschriebenen Werteanspruch auch in Gänze erfüllt, ist umstritten. Doch der Anspruch der Mitgliedsstaaten an die EU bei der Konzeption der europäischen Verträge war und ist klar: Europa soll für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte stehen, deshalb sind die  in Art. 2 EUV genannten Werte als Teil der Kopenhagener Kriterien Voraussetzung zum Beitritt zur Europäischen Union. Mitgliedsstaaten müssen, wenn sie gegen die sogenannte „Geschäftsgrundlage der Union“ aus Art. 2 EUV verstoßen, Sanktionsmaßnahmen fürchten.

Dass es zu der Normierung gemeinsamer Werte und die Möglichkeit der Durchsetzung dieser kommen würde, war bei der Konzeption der Vorgängerorganisation der EU, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, nicht absehbar. Die EGKS wurde nach dem zweiten Weltkrieg gegründet, damit die zwei wichtigsten Rüstungsindustrien - Kohle und Stahl - nicht mehr unabhängig in den einzelnen Staaten agieren konnten. Ein weiterer Konflikt unter den europäischen Staaten sollte so verhindert werden.

Aus heutiger Sicht legte die Gründung der EGKS aber auch den Grundstein für die europäische Integration. Über die Jahrzehnte führte die steigende wirtschaftliche Abhängigkeit voneinander zu der Notwendigkeit weiterer gemeinsamer wirtschaftlicher Regelungen. Gemeinsame Regelungen mussten und müssen getroffen, überwacht und gerichtlich durchgesetzt werden. Hierfür benötigt es Organe, Gremien und Diskussionsräume. Der große europäische Apparat mit Kommission, Rat, Europäischem Parlament sowie Gerichtshof entstand.

Die enge wirtschaftliche Verzahnung der Union führte aber auch zu der Notwendigkeit eines gemeinsamen Wertefundaments. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union waren nicht willens, weitere wirtschaftliche Autonomie abzugeben, ohne die Absicherung, dass die EU auch in Zukunft auf Grund eines gemeinsamen Wertefundament handeln würde.

In genau dieser Entwicklung sehen extreme Rechte Kräfte heute eine Entmündigung der Nationalstaaten durch ein vermeintliches „Diktat aus Brüssel“. Dieses angebliche Diktat schadet jedoch nicht den Interessen der deutschen Staatsbürger*innen, vielmehr steht es der eigenen rechten Politik entgegen. Denn die rechte rückwärtsgerichtete Vision von protektionistischen Nationalstaaten ist europarechtswidrig und damit die gesamte politische Vision mit den europäischen Verträgen unvereinbar.
Eine Gesellschaft, die sich durch „Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“ (Art.2 EUV) bzw. danach strebt, ist den Rechten ebenfalls zuwider. Nationalistischem Denken ist es außerdem ideologisch fremd, dass eine Organisation, die auch von anderen Staaten gelenkt und beeinflusst wird, wichtige Entscheidungen für das eigene Land treffen kann.

Dies bedeutet nicht, dass jegliche Kritik an der EU unberechtigt wäre. Innerhalb der Union gibt es diverse Probleme oder Reformbedarfe. So kritisieren einige Wirtschaftsliberale das Brüsseler Bürokratiemonster, die europäische Außengrenzenpolitik wird von zahlreichen Bürger*innen der EU als unmenschlich beschrieben und Demokrat*innen kritisieren das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene.

Trotz all dieser Kritikpunkte bleibt Europa aber vor allem eines: Ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Projekt, mit dem Ziel, die verschiedenen Kulturen, Regionen und Menschen Europas zusammenzuführen und ein friedliches wohlhabendes Europa zu schaffen.

Hierfür hat man sich auf die Grundwerte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Menschenrechte geeinigt. Um die Ausgestaltung dieser Werte wird stetig gerungen und diskutiert. Sie werden in Brüssel aber auch verteidigt und durchgesetzt. Auch gegenüber Autokraten und den extremen Rechten.
Genau deshalb sind die Wahlen zum Europäischen Parlament so zentral für unsere gemeinsame europäische Zukunft.

Links:

https://www.zeit.de/wirtschaft/2024-01/london-brexit-kosten-140-milliarden-grossbritannien

https://www.ft.com/content/e5c741a7-befa-4d49-a819-f1b0510a9802

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/dexit-afd-chefin-weidel-bringt-austritt-deutschlands-aus-der-eu-ins-spiel/100009315.html

https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/146/der-schutz-der-werte-gema%C3%9F-artikel-2-euv-in-der-eu#