Hier Beate Walter-Rosenheimers Stellungname im Wortlaut:
Seit Jahren steigt die Anzahl psychisch kranker Menschen in Deutschland. Jeder dritte Erwachsene ist im Laufe seines Lebens von einer Erkrankung der Psyche betroffen. Auch der Anteil der Arbeitsunfähigkeitszeiten durch psychische Erkrankungen hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. Dementsprechend hoch ist die Anzahl der Kinder psychisch kranker Eltern. Experten gehen von ca. 3 – 4 Millionen betroffenen Kindern aus. Von diesen ist schätzungsweise die Hälfte bereits psychisch auffällig.
Kinder psychisch kranker Eltern haben statistisch gesehen je nach Art der Erkrankung eine
3 – 7-fach höhere Disposition für psychische Erkrankungen im Vergleich zur „Normalbevölkerung". Verantwortlich für dieses erhöhte Risiko ist ein Zusammenspiel aus sozialen Komponenten, besonders schwierigen Lebens- und Entwicklungsbedingungen sowie genetischen Faktoren.
Kinder psychisch kranker Eltern sind jedoch nicht nur selbst von einem höheren Risiko für psychische Erkrankungen betroffen, sondern sind gezwungen, auch innerhalb der Familie Aufgaben zu übernehmen, die sonst Erwachsenen obliegen.
Häufig werden sie zu Pflegenden und übernehmen die Verantwortung für ihre Eltern. Dies überfordert Kinder, weshalb sie in besonderem Maße auf Unterstützung angewiesen sind. Erste wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass diese Kinder häufig unter ständiger Angst vor einer Krankheits-verschlechterung und dem damit verbundenen Ausfall des Elternteils leiden. Trennungsängste und Verlusterfahrungen sind die Folge. Die Kinder haben zudem auch sehr stark unter der immer noch vorherrschenden Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und deren Tabuisierung in der Gesellschaft zu leiden. Psychische Erkrankungen werden häufig „in der Familie gehalten" und nach außen verheimlicht. Durch dieses „Schweigegebot" haben die Kinder wenige Chancen auf Hilfe und Unterstützung.
Professionelle Beratungs- und Anlaufstellen sind selten bekannt und finden sich, wenn überhaupt, meist nur in größeren Städten.
Bei der Behandlung erkrankter Eltern werden die Kinder häufig vergessen. Es wird nicht danach gefragt, ob Kinder betroffen sind und ob sie Unterstützung benötigen.
Es gibt keine „Versorgungspläne" für betroffene Familien. Er-schwerend kommt hinzu, dass die Versorgungssituation von Kindern psychisch kranker Eltern in Deutschland dem Bedarf bei weitem nicht gerecht wird.
Die Anzahl und regionale Verteilung der Hilfsangebote ist deutschlandweit noch sehr unterschiedlich. Es gibt weder eine flächendeckende Routineversorgung noch Evaluationen zur Wirksamkeit der Interventionen. Zudem fehlt es an wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen zu den Folgen der Belastungssituation für Kinder.
Die Kinderkommission hat sich mit der Problematik der betroffenen Kinder intensiv auseinandergesetzt. Im Rahmen dessen hat sie die Ambulante Sozialpädagogik Charlottenburg e. V. besucht und Einblick in die Arbeit mit psychisch kranken Eltern und ihren Kindern bekommen. AMSOC bietet neben der sozialpädagogischen und psychologischen Arbeit mit Eltern und Kindern ein Patenschaftsprogramm an, in dem Kindern psychisch kranker Eltern dauerhaft eine emotional stabile Person als Patin bzw. Paten an die Seite gestellt wird. Diese Person soll zum verlässlichen Begleiter in gesundheitlich guten wie auch schlechten Zeiten werden und dem Kind damit Sicherheit und Stabilität geben.
In zwei Expertengesprächen wurden darüber hinaus die Probleme und Bedarfe von Kindern psychisch kranker Eltern und die strukturelle Dimension, Kooperation und Vernetzung sowie ein möglicher gesetzgeberischer Handlungsbedarf durch verschiedene Sachverständige dargelegt und diskutiert. Daraus zieht die Kinderkommission folgende Schlüsse und Empfehlungen:
• Kinder und ihre Familien brauchen individuell auf ihren jeweiligen Bedarf zugeschnittene niedrigschwellige Hil-fen. Dies sollte durch ein angemessenes, strukturiertes Unterstützungssystem ergänzt werden.
• Die Familie in den Blick nehmen: sowohl bei den Hilfen für Kinder als auch bei psychiatrischer Behandlung der Eltern. Die medizinische Versorgung hat bislang nur den jeweiligen Patienten im Blick, eine Betrachtung des kompletten Familiensystems fehlt meist. Bei jeder Intervention muss immer auch überprüft werden, ob Kinder betroffen sind und wie deren physische und psychische Versorgung sichergestellt werden kann.
• Die verschiedenen Hilfesysteme wie das Gesundheitswesen, Kindertagesbetreuung und Schule oder Jugendhilfe müssen besser miteinander vernetzt werden. Kooperationsstrukturen müssen ausgebaut werden, damit Kinder nicht mehr durch die Raster fallen.
• Die im Sozialgesetzbuch VIII – Kinder- und Jugendhilfe – vorgesehenen Hilfen zur Erziehung sollen auf die Problematik von Kindern psychisch kranker Eltern ausgeweitet werden. Als Ergänzung ist eine flächendeckende Unterstützung von Patenschaftsangeboten wünschenswert.
• Präventions- und Früherkennungsstrukturen sollen dort geschaffen werden, wo Eltern und Kinder bereits in Kontakt mit dem Gesundheitswesen oder mit psychosozialen Strukturen sind. Das sind etwa die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen (U1-U9) beim Kinderarzt, wo auch psychische Auffälligkeiten beobachtet oder abgefragt werden können oder soziale Orte wie der Kindergarten und die Schule. Erforderlich ist deshalb eine bessere Aufklärung von KinderärztInnen, ErzieherInnen und LehrerInnen in speziellen Infobroschüren oder Seminaren, damit dieser Personenkreis für derartige Probleme der Kinder sensibilisiert ist. Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft soll durch Informations- und Aufklärungskampagnen, am besten schon im Kindergarten- und Grundschulalter, verringert werden. Dadurch können Tabus gebrochen und ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Bedarfe von Kindern psychisch kranker Eltern geschaffen werden.
• Bislang liegen viel zu wenig wissenschaftlich fundierte Informationen zur Situation und zu den Bedarfen von Kindern psychisch kranker Eltern vor. Wissenschaftliche Studien sollen gefördert werden.
Die Kinderkommission setzt sich für die Umsetzung dieser Schlussfolgerungen ein, um eine Verbesserung der Situation von Kindern psychisch kranker Eltern zu erreichen.