Wahlen in Europa - In welchem gemeinsamen Haus wollen wir leben?

Bis zur Europawahl veröffentlichen wir hier jeden Freitag ein anderes Schlaglicht auf Europa: Menschenrechte, Minderheitenschutz, Klima, freie Presse, reproduktive Rechte - um nur einige Themen zu nennen.
Heute geht es um die Textilproduktion in Europa und darum, warum das EU-Lieferkettengesetz durchaus ein Meilenstein ist.

Der Einsturz der Rana Plaza Fabrik in Bangladesch im Jahr 2013, bei dem 1135 Tote zu beklagen waren und mehr als 2400 Menschen verletzt wurden, eröffnete einen erschütternden Einblick in die prekären Arbeitsbedingungen der Textilproduktion im globalen Süden. Fehlende Arbeitssicherheit und mangelnde Hygiene, ein Lohn, der trotz Überstunden nicht zum Leben reicht, Kinderarbeit und die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes– der Alltag der Textilarbeiter im globalen Süden war sehr sichtbar in diesen Tagen. Das Bewusstsein, dass hinter dem ethischen und auch ökologischen Desaster die Fast Fashion-Industrie mit ihrer gewaltigen Überproduktion steht, ist gewachsen. Die Nachfrage danach ist im Westen dennoch auch heute noch ungebrochen.  

Zahlreiche europäische Unternehmen setzten nach diesem größten Unglück in der Geschichte der Textilindustrie darauf, ihre Kleidung „Made in Europe“ fertigen zu lassen und dies als Garantie für sichere und faire Arbeitsbedingungen zu vermarkten. Doch ist „Made in Europe“ wirklich fair?

Ein großer Schwerpunkt der europäischen Textilproduktion liegt in Südosteuropa. Für Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Mazedonien gehört die Textilproduktion zu den Top 5 ihrer Exportgüter. Die Bekleidungsindustrie ist in all diesen Ländern mit mindestens 90 Prozent weiblichen Beschäftigten das am schlechtesten bezahlte verarbeitende Gewerbe. Die größten Auftraggeber kommen aus Italien und Deutschland, darunter sind hochpreisige Marken wie Hugo Boss und Escada, Sportmarken wie Adidas, aber auch Discounter wie Lidl und Kaufland zu finden. Viele dieser Marken sind Mitglieder in freiwilligen Multi-Stakeholder-Initiativen und nutzen Siegel, die die nachhaltige und faire Produktion ihrer Produkte und damit auch folgende Menschenrechte garantieren sollen:

  • Die Kernarbeitsnormen der ILO (International Labour Organisation):
    1. Vereinigungsfreiheit und Recht zu Kollektivverhandlungen,
    2. Beseitigung der Zwangsarbeit,
    3. Nicht-Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf,
    4. Abschaffung der Kinderarbeit.
  • Das Menschenrecht auf einen existenzsichernden Lohn
  • Das Recht auf gesunde Arbeitsbedingungen und Gesundheitsschutz
  • Eine maximale reguläre Wochenarbeitszeit von 48 Stunden
  • Ein gesetzlich geregeltes Beschäftigungsverhältnis

Diese UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte gelten zwar seit 2011, bislang fehlte allerdings die Möglichkeit der Durchsetzung auf dem Rechtsweg. Verstöße gegen Menschen- und Arbeitsrechte wurden daher nicht geahndet.

Kleidung „Made in Europe“ – eine Garantie für faire Arbeitsbedingungen?

Recherchen von zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der Clean Clothes Campaign (CCC) oder Femnet zeigen bis heute auf, dass die Mitgliedschaft der deutschen Unternehmen in freiwilligen Initiativen kein Versprechen für die tatsächliche Verantwortungsübernahme für Produktionsverfahren und Arbeitsbedingungen bei ihren Zulieferern ist. Zu den am häufigsten genannten Menschenrechtsverletzungen gehören laut den investigativ befragten Beschäftigten in der südosteuropäischen Bekleidungsindustrie:

  • Ein Lohn, der nur etwa 20 Prozent (Bulgarien) bis 33 Prozent (Serbien) eines existenzsichernden Lohnes darstellt. Damit ist der tatsächliche Lohn gemessen am Existenzlohn in Europa noch niedriger als in Asien
  • Lohnzahlungen, die an das Ziel einer Produktionsnorm gebunden sind und damit kein geregeltes Einkommen darstellen sowie Überstunden und Arbeitsdruck erfordern
  • Keine verbindlichen Arbeitsverträge und damit keine soziale Absicherung
  • Teilweise unerträgliche Temperaturen am Arbeitsplatz: unerträgliche Hitze im Sommer, klirrende Kälte im Winter
  • Unzureichende hygienische Bedingungen und verschmutztes Wasser
  • Repressionen gegen Gewerkschaftsmitglieder
  • Arbeiter*innen erfahren Diskriminierungen und Einschüchterungen mit dem Ziel der Arbeitssteigerung

Mit dem Beschluss des EU-Lieferkettengesetzes vom 24.Mai 2024 tritt nun schrittweise endlich eine verbindlich geregelte, menschrechtliche Sorgfaltspflicht für alle europäischen Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten in Kraft. Das EU-Lieferkettengesetz wird in drei Jahren für sehr große Unternehmen mit über 5000 Mitarbeitenden und 1500 Millionen Euro Jahresumsatz gelten und in 5 Jahren für Unternehmen ab 1000 Mitarbeitenden und 450 Millionen Euro Jahresumsatz. Von Menschenrechtsverletzungen betroffene Arbeiter*innen haben dadurch endlich die Möglichkeit, vor EU-Gerichten Schadensersatz zu verlangen.

Diese europäische Entscheidung ist ein großer Schritt in der globalen Entwicklung - für die Menschenrechte und das gemeinsame Ziel der sozialen Gerechtigkeit. Wir Grünen setzen uns auch weiter dafür ein, die sozialen und auch ökologischen Standards in der globalen Industrie zu verbessern.

Links:

https://saubere-kleidung.de/

https://femnet.de/fuer-frauenrechte/unsere-themen/unternehmensverantwortung-csr-lieferkettengesetz/presse-zu-unternehmensverantwortung/228-presse-zu-gotransparent-lieferketten-offenlegen/4670-eu-lieferkettengesetz-nimmt-letzte-huerde-paradigmenwechsel-beim-menschenrechts-und-umweltschutz.html

https://fashionchangers.de/weisst-du-wieviel-textilbeschaeftigte-wirklich-verdienen/

https://www.tagesschau.de/thema/lieferkettengesetz